Sonntag, 21. Januar 2007

Abgrund

Abgrund
Ein Abgrund.
Einer hier - ein Anderer dort.

DER: so da stehen sie also.
DER ANDERE: ach ja.
ER: und wie geht das?
DER ANDERE: wohl kaum.
ER: meine güte, sie sind ja schon halbverwest!
DER ANDERE: ich bin schon lange tot.
ER: wie ist es denn bei ihnen so? sie scheinen mir ja ein ganz netter geselle zu sein.
EINE LEICHE: haben sie keine angst, treten sie nur näher.
ER: und aufwiedersehen. [er wendet sich ab und geht]
EINE LEICHE: ganz bestimmt.

Die Unmöglichkeit über das Leben zu schreiben resultiert aus der Unmöglichkeit den Tod zu beschreiben. Es verhält sich, wie mit der Unmöglichkeit ein schwarzes Quadrat auf schwarzem Hintergrund zu sehen, selbst ein Kreis ist unter genannten Umständen nicht sichtbar. Nicht, dass ich mich jetzt in sprachlichen Verhexungen oder oberflächlich wahrhaftig scheinenden Gleichnissen und Symbolismen verfangen möchte, aber, natürlich wieder geneigt anstatt über das Leben an sich über das Leben als solches zu schreiben, als weiterer hoffnungsloser Versuch, bin ich selbstverständlich gezwungen, mich an solch Niedrigkeiten zu bedienen. Die Frage stellend, ob das Leben (als substantiviertes Verb) nicht wichtiger ist als das Leben (als Substantiv), das Schreiben wichtiger als der Text, beginne ich.

Ein Dialog, eine Leiche und ein Mensch also; ein Abgrund.

ER: [er kommt und wendet sich dem anderen zu]: Sie sind immer noch da?
EINE LEICHE: natürlich, wo sollte ich denn hin?
ER: Erklären sie mir den Tod, ich muss es wissen. . .
EINE LEICHE: was wissen? also gut, erklären sie mir das leben, dann erkläre ich ihnen den tod.
ER: Ich weiss doch nichts, ich armer Wurm. Ich kann doch das Leben nicht erklären, sonst wäre ich nicht hier am Abgrund. Ich habe es versucht, ja, sehr oft, doch in Wirklichkeit stehe ich noch am Anfang. Wenn ich schon das Leben nicht verstehe, dann vielleicht den Tod
EINE LEICHE: wie sie mir das leben nicht erklären können, so kann ich ihnen den tod nicht erklären
ER: Dann erzählen sie mir vom Leben. Können sie wenigstens dazu etwas sagen?
EINE LEICHE: nein.
ER: Ja, haben sie denn nie gelebt, nie gesucht und geliebt. Irgendwann muss doch alles klar werden, haben sie denn keine Antworten zu all den Fragen, die man sich stellt? Wen sollen wir denn fragen, wenn nicht die Toten?
EINE LEICHE: natürlich habe ich gelebt, und gesucht und geliebt, so wie sie jetzt. aber können sie deswegen etwas dazu sagen? glauben sie, sie müssten nur diesen schritt in den abgrund machen, nur springen und dann würde ihnen alles klar? wie heißen sie denn überhaupt?
ER: Ich heiße Maynard. Und wie sieht es mit ihnen aus. Ich rede schon die längste Zeit mit ihnen, und weiß nicht einmal wie sie heißen.
EINE LEICHE: ich habe keinen namen. leichen haben keine namen.
MAYNARD: Soso, sie sind also namenlos. Ich stehe hier und rede mit einer namenlosen leiche, die im übrigen nicht das geringste weiß.
EINE LEICHE: sie sind mir gegenüber im vorteil, sie haben immerhin einen namen.
MAYNARD: Aber das nützt mir doch gar nichts.
EINE LEICHE: ach nein? nun gut, sie werden es wohl besser wissen. oha, sie werden gerufen.
MAYNARD [entfernt sich vom Abgrund]

MAYNARD [kommt zurück]: Entschuldigung, dass ich vorher weg musste
EINE LEICHE: ich wäre auch gegangen. man hat sie ja gerufen; ihre geliebte? wieso sind sie überhaupt schon wieder hier?
MAYNARD: Ich weiss jetzt was leben heisst.
EINE LEICHE: und deswegen sind sie hier? ich hoffe sie wollen mir das jetzt nicht vortragen. es interessiert mich nämlich nicht im geringsten, sie verstehen, ich bin tot. mich interessiert das leben nicht. nicht mehr.
MAYNARD: Leben heißt sich abgrenzen, sich eingrenzen und ausgrenzen. Leben heißt Scheitern, Leben heißt absterben und sterben in letzter Instanz, natürlich. Der Tod ist die einzige Konsequenz des Lebens. Leben heißt Zerfall und Auslöschung. Leben heißt Leiden.
EINE LEICHE: möchten sie nichts mehr hinzufügen?
MAYNARD: Nein, nichts.
EINE LEICHE: also ich denke, sie haben recht. leben heißt leiden, leben umschreibt den prozess des sterbens auf erträgliche weise. natürlich, es ist alles trostlos, aber es nützt ihnen ja doch nichts. was wollen sie denn tun? haben sie denn eine andere möglichkeit? was nützt ihnen ihr wissen vom leben, wenn sie nichts ändern können? in wirklichkeit nützt es ihnen gar nichts; wahrscheinlich geht es ihnen nur darum ihr Unglück zu rechtfertigen, vor den anderen und vor ihnen selbst ganz besonders. sie widern mich an.
MAYNARD: Sie widersprechen mir also?
EINE LEICHE: nein, in keinem gedanken. aber wenn sie wirklich glauben, dass alles verloren ist, wieso machen sie sich dann sorgen, und kommen mit gerunzelter stirn zu mir? sind sie sich etwa nicht sicher? man ist sich nie sicher, das können sie sich merken. lachen sie doch, es gibt keinen grund sich zu sorgen, alles ist lächerlich. nehmen sie den tod schweigend zur kenntnis und das leben nicht ernst. nichts lohnt sich. alles ist wertlos. tanzen sie im regen und werfen sie blumen in den himmel!
MAYNARD[unmotiviert]: hurra.
EINE LEICHE: es ist doch alles so einfach.
MAYNARD: Und was soll ich ihrer meinung nach jetzt tun?
EINE LEICHE: nun, Maynard, tun sie, was sie wollen, nehmen sie doch nicht alles so furchtbar ernst. gehen sie zu ihrer geliebten oder verbringen sie einen netten abend mit ihren freunden, bevor sie weg sind, gehen sie etwas essen und danach noch auf ein getränk oder zwei, befassen sie sich mit religion oder wissenschaft, mit philosophie und kunst, verschenken sie ihr geld oder kaufen sie ein haus, feiern sie ihren geburtstag oder schließen sie sich zu hause ein, es ist so einfach, seien sie sich nur in jedem moment ihrer absoluten bedeutungslosigkeit bewusst, nehmen sie nichts für wichtig. alles ist einfach.
MAYNARD: Das verstehe ich nicht. Selbst wenn ich wüsste was ich wollte, ich könnte es nicht tun. Nichts geht, es ist alles so furchtbar kompliziert, nicht nur das Leben, selbst der Tod, und sie wissen das, sie machen sich über mich lustig, das sollten sie nicht tun.
EINE LEICHE: ach, wissen sie, was ich sage verstehen die nie, die hierher kommen, solche wie sie, die glauben alles zu wissen, in wirklichkeit jedoch nicht die geringste ahnung haben, aber sie kommen doch immer wieder. springen sie jetzt oder springen sie nicht, doch wenn sie nicht springen dann leben sie diesen moment des nichtspringens. ja, dieses nichtspringen zu leben, auch das bedeutet leben vielleicht mehr sogar als absterben. So, genug, verschwinden sie jetzt bitte.
MAYNARD: und ich kann nicht springen und ich kann nicht gehen und vor allen dingen kann ich hier nicht stehen. Selbst die Toten machen sich über mich lustig…[geht schließlich]

Ein Mann rollt im Rollstuhl zum Abgrund. Er bleibt stehen; es ist im eine Qual sich umzudrehen, doch er versucht es noch ein letztes mal. Niemand ist ihm gefolgt, natürlich. Die Leiche ist immer noch da, die Leichen überhaupt, tausende Körper, halbverwest. Er mustert sie genau. Ihre Münder und ihre Augen sind zugenäht, ihre Nasen sind luftdicht vernietet, die Ohren abgeschnitten. Ihre Haut ist grau, ebenso grau wie ihr Haar, dass ihnen wie Stroh ins Gesicht hängt, sie sind in Fetzen gehüllt. Sie sind, als hätten sie nie gefühlt, nie gesprochen, ihm wurde klar die Leichen hätten nie gelebt, Zeit zählt hier nicht. Und er glaubte sich plötzlich zu erinnern, völlig absurd, wie eine von ihnen sagte, er soll im Regen tanzen und Blumen in den Himmel werfen, und es kostete ihm ein Schmunzeln, ein spöttisches, als er auf seine lahmen Beine blickte, auf seinen schwachen Körper, gefesselt im Rollstuhl. Und er setzt mit seinen Händen behutsam die Räder seines Rollstuhles in Bewegung, wie er es schon lange gewohnt ist, so, dass er langsam über die Klippe rollte.

Es hört auf zu regnen und die Blumen verblühen; Bersten des Rollstuhls.

(http://www.untergang-versus-scheitern.de.vu/)

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