Kammerflimmern

Sonntag, 21. Januar 2007

Eine

Eine Schicht aus Frost und Nadeln kroch über meine Schultern. Noch immer hatte ich den Blick in den eisblauen Himmel gerichtet und war mir nur am Abgrund meiner Gedanken bewusst, dass die Kälte fast vollständig bis in mein Inneres vorgedrungen war. In meinen Gedanken folgte ich dem Weg eines Eisvogels, der über mir seine Bahn zog wie ein Schneeschieber durch die kalte Einöde.

Ein sandiger Windstoß aus der Weite des hitzigen Julinachmittages holte mich aus meiner Starre in das Reich des Lebendigen zurück, änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich inmitten dieses sommerlichen Gestöbers erbärmlich fror ohne mir erklären zu können, warum. Aber ich hatte gelernt diese Fragen nach dem Warum nicht länger zu verfolgen und ging, den Blick seitwärts in die Tiefen des Gartens gerichtet, auf die Terrasse des Hauses zu. Erst als ich vor ihm zum Stehen gekommen war fiel mir auf, wie sehr es mit seinen umrankenden Pflanzen vereint war, ganz so, als wäre es inmitten dieser Flieder, Erlen und unzähligen Efeuranken als eines von ihnen aus dem Boden hinauf zur Sonne gewachsen.

Bevor ich die letzten Schritte zur Veranda lenkte, deren beste Tage weit vor meiner Zeit vorübergegangen waren, fiel mein Blick wieder in den Himmel. Das Blau, welches eben noch als eisige Landschaft den Garten überzogen hatte, war zusehends stumpf geworden. Fast unwirklich lag die matte Farbe auf ihm und ich musste an lang vergangene Träume denken, in denen die Aufmerksamkeit so sehr auf andere Dinge gerichtet ist, dass die Farben in ihm bestenfralls fahl und verwittert scheinen. In gewisser Weise ähnelte es auch Erinnerungen, in denen Farben wie auf alten Fotografien zusehends verblassen.

Wie die Frage nach dem Warum war auch dieses Gedankenspiel völlig bedeutungslos. Helen hatte mich noch nicht wahrgenommen, also stieg ich behutsam die vor Unzeiten aus schlechten Zement geformten Stufen hinauf, deren Bröckeln unter meinem Gewicht ihr immer noch keinen Anlass gaben, den dichten Vorhang ihrer Haare zur Seite zu legen und mich anzusehen. Beim letzten meiner Schritte betrat ich schließlich den Holzboden, der kaum wahrnehmbar erzitterte. Die Luft lag schwer und ungeduldig auf unseren Schultern und kündigte bereits vom herannahenden Herbst. Durchtränkt vom süßlichen Vanille-Aroma aus Helens Zigarette schien sie aus dem Haus in den Garten zu fließen um dort mit den letzten Gerüchen des Sommers zu verschwinden.

Das letzte Gramm Asche fiel von ihrer Zigarette und versank mit einem leisen Zischen im Moosteppich der Vogeltränke. Schließlich trat ich an sie heran und ließ sie ihre Arme um meine Schultern legen. Ein kurzes Zucken durchlief ihren Körper als sie merkte, dass ich ihre Umarmung nicht erwiderte.
Ihr rechter Arm glitt an meinem Hals vorbei, während sie sich abwandte und im kühlen Dunkel des Hauses verschwand. Ich folgte ihr in die kurzzeitige Erblindung und erwachte im modrigen Licht des Untergeschosses, welches ich ohne es zu beachten über die Treppe in den Keller verließ. Kaum in der Lage im engen Flur aufrecht zu gehen stieß ich beinahe an den weiß lackierten Boiler, oder zumindest etwas was vor langer Zeit einmal weiß lackiert gewesen sein musste. Hinter der Biegung verdunkelten dicke Bleiglasfenster den kurzen Gang fast schon mehr, als sie bereit waren, etwas vom Schimmern des Sommertages in ihn hineinzulassen. Alte Kindheitserinnerungen an einen Dachboden irgendeiner Großtante bröckelten von den Wänden, einschließlich der Beruhigung, die seitdem durch das Wechselspiel von rotbraunem und milchiggrünem Licht hervorgerufen wurde.

Abgesehen davon wirkte dieser Gang notwendig noch dunkler durch das bleiche Licht, welches aus der letzten der drei Türöffnungen wie ein dickes Tuch auf den hölzernen Boden fiel und dort in den Staub sickerte. Meine Erinnerungen beiseite schiebend betrat ich die kleine Waschküche, die dank einer einzelnen nackten Glühbirne in einem unangenehmen, stumpfen Gelb schwamm. Helen saß auf der Waschmaschine, die schwarzen Träger ihres Kleides lagen auf ihren Schultern und bildeten neben ihrem Hals einen scharfen Kontrast zur weißen Haut.

Zu ihren Füßen stand ein Korb mit Äpfeln, die sicherlich aus diesem Garten waren. Ich hatte vorher ein paar Apfelbäume gesehen und einen Apfel davon gepflückt, den ich immer noch in meiner rechten Hand hielt ohne die letzten Minuten davon Kenntnis genommen zu haben. Als ich ihn ihr entgegenhielt, fiel mein Blick auf sein makelloses Äußeres sowie ein starkes, glänzendes Rot, dessen Ursprung mir in diesem Licht ein Rätsel war. Helen, die von meinen Gedanken nichts wissen konnte, nahm ihn und biss hinein. Für einen kurzen Moment durchzuckte mich die angstvolle Vision, aus dem Apfel Blutstropfen hervorquellen zu sehen. Stattdessen lief nur eine graue Träne über ihr staubiges Gesicht. In dem Augenblick, in dem sie den Apfel erreichte, verfärbte sie sich in ein tiefes Rot und fiel schließlich, ohne jedoch den Glanz der Farbe zu verlieren, zu Boden.

Abgrund

Abgrund
Ein Abgrund.
Einer hier - ein Anderer dort.

DER: so da stehen sie also.
DER ANDERE: ach ja.
ER: und wie geht das?
DER ANDERE: wohl kaum.
ER: meine güte, sie sind ja schon halbverwest!
DER ANDERE: ich bin schon lange tot.
ER: wie ist es denn bei ihnen so? sie scheinen mir ja ein ganz netter geselle zu sein.
EINE LEICHE: haben sie keine angst, treten sie nur näher.
ER: und aufwiedersehen. [er wendet sich ab und geht]
EINE LEICHE: ganz bestimmt.

Die Unmöglichkeit über das Leben zu schreiben resultiert aus der Unmöglichkeit den Tod zu beschreiben. Es verhält sich, wie mit der Unmöglichkeit ein schwarzes Quadrat auf schwarzem Hintergrund zu sehen, selbst ein Kreis ist unter genannten Umständen nicht sichtbar. Nicht, dass ich mich jetzt in sprachlichen Verhexungen oder oberflächlich wahrhaftig scheinenden Gleichnissen und Symbolismen verfangen möchte, aber, natürlich wieder geneigt anstatt über das Leben an sich über das Leben als solches zu schreiben, als weiterer hoffnungsloser Versuch, bin ich selbstverständlich gezwungen, mich an solch Niedrigkeiten zu bedienen. Die Frage stellend, ob das Leben (als substantiviertes Verb) nicht wichtiger ist als das Leben (als Substantiv), das Schreiben wichtiger als der Text, beginne ich.

Ein Dialog, eine Leiche und ein Mensch also; ein Abgrund.

ER: [er kommt und wendet sich dem anderen zu]: Sie sind immer noch da?
EINE LEICHE: natürlich, wo sollte ich denn hin?
ER: Erklären sie mir den Tod, ich muss es wissen. . .
EINE LEICHE: was wissen? also gut, erklären sie mir das leben, dann erkläre ich ihnen den tod.
ER: Ich weiss doch nichts, ich armer Wurm. Ich kann doch das Leben nicht erklären, sonst wäre ich nicht hier am Abgrund. Ich habe es versucht, ja, sehr oft, doch in Wirklichkeit stehe ich noch am Anfang. Wenn ich schon das Leben nicht verstehe, dann vielleicht den Tod
EINE LEICHE: wie sie mir das leben nicht erklären können, so kann ich ihnen den tod nicht erklären
ER: Dann erzählen sie mir vom Leben. Können sie wenigstens dazu etwas sagen?
EINE LEICHE: nein.
ER: Ja, haben sie denn nie gelebt, nie gesucht und geliebt. Irgendwann muss doch alles klar werden, haben sie denn keine Antworten zu all den Fragen, die man sich stellt? Wen sollen wir denn fragen, wenn nicht die Toten?
EINE LEICHE: natürlich habe ich gelebt, und gesucht und geliebt, so wie sie jetzt. aber können sie deswegen etwas dazu sagen? glauben sie, sie müssten nur diesen schritt in den abgrund machen, nur springen und dann würde ihnen alles klar? wie heißen sie denn überhaupt?
ER: Ich heiße Maynard. Und wie sieht es mit ihnen aus. Ich rede schon die längste Zeit mit ihnen, und weiß nicht einmal wie sie heißen.
EINE LEICHE: ich habe keinen namen. leichen haben keine namen.
MAYNARD: Soso, sie sind also namenlos. Ich stehe hier und rede mit einer namenlosen leiche, die im übrigen nicht das geringste weiß.
EINE LEICHE: sie sind mir gegenüber im vorteil, sie haben immerhin einen namen.
MAYNARD: Aber das nützt mir doch gar nichts.
EINE LEICHE: ach nein? nun gut, sie werden es wohl besser wissen. oha, sie werden gerufen.
MAYNARD [entfernt sich vom Abgrund]

MAYNARD [kommt zurück]: Entschuldigung, dass ich vorher weg musste
EINE LEICHE: ich wäre auch gegangen. man hat sie ja gerufen; ihre geliebte? wieso sind sie überhaupt schon wieder hier?
MAYNARD: Ich weiss jetzt was leben heisst.
EINE LEICHE: und deswegen sind sie hier? ich hoffe sie wollen mir das jetzt nicht vortragen. es interessiert mich nämlich nicht im geringsten, sie verstehen, ich bin tot. mich interessiert das leben nicht. nicht mehr.
MAYNARD: Leben heißt sich abgrenzen, sich eingrenzen und ausgrenzen. Leben heißt Scheitern, Leben heißt absterben und sterben in letzter Instanz, natürlich. Der Tod ist die einzige Konsequenz des Lebens. Leben heißt Zerfall und Auslöschung. Leben heißt Leiden.
EINE LEICHE: möchten sie nichts mehr hinzufügen?
MAYNARD: Nein, nichts.
EINE LEICHE: also ich denke, sie haben recht. leben heißt leiden, leben umschreibt den prozess des sterbens auf erträgliche weise. natürlich, es ist alles trostlos, aber es nützt ihnen ja doch nichts. was wollen sie denn tun? haben sie denn eine andere möglichkeit? was nützt ihnen ihr wissen vom leben, wenn sie nichts ändern können? in wirklichkeit nützt es ihnen gar nichts; wahrscheinlich geht es ihnen nur darum ihr Unglück zu rechtfertigen, vor den anderen und vor ihnen selbst ganz besonders. sie widern mich an.
MAYNARD: Sie widersprechen mir also?
EINE LEICHE: nein, in keinem gedanken. aber wenn sie wirklich glauben, dass alles verloren ist, wieso machen sie sich dann sorgen, und kommen mit gerunzelter stirn zu mir? sind sie sich etwa nicht sicher? man ist sich nie sicher, das können sie sich merken. lachen sie doch, es gibt keinen grund sich zu sorgen, alles ist lächerlich. nehmen sie den tod schweigend zur kenntnis und das leben nicht ernst. nichts lohnt sich. alles ist wertlos. tanzen sie im regen und werfen sie blumen in den himmel!
MAYNARD[unmotiviert]: hurra.
EINE LEICHE: es ist doch alles so einfach.
MAYNARD: Und was soll ich ihrer meinung nach jetzt tun?
EINE LEICHE: nun, Maynard, tun sie, was sie wollen, nehmen sie doch nicht alles so furchtbar ernst. gehen sie zu ihrer geliebten oder verbringen sie einen netten abend mit ihren freunden, bevor sie weg sind, gehen sie etwas essen und danach noch auf ein getränk oder zwei, befassen sie sich mit religion oder wissenschaft, mit philosophie und kunst, verschenken sie ihr geld oder kaufen sie ein haus, feiern sie ihren geburtstag oder schließen sie sich zu hause ein, es ist so einfach, seien sie sich nur in jedem moment ihrer absoluten bedeutungslosigkeit bewusst, nehmen sie nichts für wichtig. alles ist einfach.
MAYNARD: Das verstehe ich nicht. Selbst wenn ich wüsste was ich wollte, ich könnte es nicht tun. Nichts geht, es ist alles so furchtbar kompliziert, nicht nur das Leben, selbst der Tod, und sie wissen das, sie machen sich über mich lustig, das sollten sie nicht tun.
EINE LEICHE: ach, wissen sie, was ich sage verstehen die nie, die hierher kommen, solche wie sie, die glauben alles zu wissen, in wirklichkeit jedoch nicht die geringste ahnung haben, aber sie kommen doch immer wieder. springen sie jetzt oder springen sie nicht, doch wenn sie nicht springen dann leben sie diesen moment des nichtspringens. ja, dieses nichtspringen zu leben, auch das bedeutet leben vielleicht mehr sogar als absterben. So, genug, verschwinden sie jetzt bitte.
MAYNARD: und ich kann nicht springen und ich kann nicht gehen und vor allen dingen kann ich hier nicht stehen. Selbst die Toten machen sich über mich lustig…[geht schließlich]

Ein Mann rollt im Rollstuhl zum Abgrund. Er bleibt stehen; es ist im eine Qual sich umzudrehen, doch er versucht es noch ein letztes mal. Niemand ist ihm gefolgt, natürlich. Die Leiche ist immer noch da, die Leichen überhaupt, tausende Körper, halbverwest. Er mustert sie genau. Ihre Münder und ihre Augen sind zugenäht, ihre Nasen sind luftdicht vernietet, die Ohren abgeschnitten. Ihre Haut ist grau, ebenso grau wie ihr Haar, dass ihnen wie Stroh ins Gesicht hängt, sie sind in Fetzen gehüllt. Sie sind, als hätten sie nie gefühlt, nie gesprochen, ihm wurde klar die Leichen hätten nie gelebt, Zeit zählt hier nicht. Und er glaubte sich plötzlich zu erinnern, völlig absurd, wie eine von ihnen sagte, er soll im Regen tanzen und Blumen in den Himmel werfen, und es kostete ihm ein Schmunzeln, ein spöttisches, als er auf seine lahmen Beine blickte, auf seinen schwachen Körper, gefesselt im Rollstuhl. Und er setzt mit seinen Händen behutsam die Räder seines Rollstuhles in Bewegung, wie er es schon lange gewohnt ist, so, dass er langsam über die Klippe rollte.

Es hört auf zu regnen und die Blumen verblühen; Bersten des Rollstuhls.

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Leben

Leben
Der Neutrale
Der Optimist
Der Pessimist
Die Liebe
Der Glaube
Der Tod.

DER NEUTRALE: Wer ist denn der erste?
DER OPTIMIST: Ich weiß es nicht, aber ich freue mich. Solche Entscheidungen trifft man nicht alle Tage.
DER PESSIMIST: Nicht zu früh.

Off: Als erste bewirbt sich um das Leben: Die Liebe

Die Liebe tritt auf. Sie trägt ein blutrotes Samtkleid und ist stark geschminkt.

DER OPTIMIST: Groß ist sie.
DER PESSIMIST: Wirkt nur durch diese lächerliche Gewandung so.
DER OPTIMIST: Lächerlich? Find ich nicht. Eher anmutig.
DER PESSIMIST: Kitschig.
DER NEUTRALE: Aber auf den ersten Blick… durchaus, durchaus.
DER PESSIMIST: Dann fangen wir mal an.... Bitte, tragen sie vor.
Die Liebe: Wie soll ich denn nur anfangen… Ja. Ich denke, dass ich es bin die das Leben verdient und ausmacht.
DER PESSIMIST (zumOPTIMIST): Na, hochmütig ist sie, ihre Liebe.
DIE LIEBE: Schliesslich begann ja auch ihre Existenz mit mir.
DER NEUTRALE: Das ist ein Argument.
DER OPTIMIST: Ein gutes sogar.
DER PESSIMIST: Muss nicht sein, aber hören wir erstmal weiter.
DIE LIEBE: Ich bewerbe mich um das Leben, weil ich es nicht nur bereichere, sondern es ausmache. Ich treibe es an. Ich bin es, die die Menschen über Kontinente verbindet. Maler zu ihren Meisterwerken inspirierte. Hoffnungslose hoffend machte.
DER PESSIMIST: Wir hören aber, das sie in letzter Zeit öfters, sagen wir mal, berufliche Durststrecken zu überwinden hatten.
DIE LIEBE: Die Zeiten sind hart. Auch für mich.
DER PESSIMIST: Was meinen sie, woran liegt das?
DIE LIEBE: Nicht an mir. Sehr lange war ich bemüht, doch mit der Zeit wird man müde. Ich habe resigniert. Es scheint als würde man mich nicht mehr brauchen. Manche haben mich aufgegeben. Manchen war ich zu mühsam. Und an den meisten Häuser, an denen ich anklopfte, war man zu beschäftigt. Man wies mir die Tür, zu beschäftigt sagten diese Menschen, zu beschäftigt mit Geld zählen und Geld bündeln und Geld verschliessen, zu beschäftigt für die Liebe.
DER NEUTRALE: Vielleicht waren sie etwas eingeschüchtert von ihrem auftreten, das, wenn ich das so sagen darf, nicht gerade leise ist.
DIE LIEBE: Oh, das glaube ich nicht. Sie müssen wissen, das Maskierung zu meinem Beruf gehört. Manchmal komme ich als Freundschaft verkleidet, leise, auf den Zehenspitzen schleiche ich mich an. Ein anderes Mal tanze ich im Rausch der Leidenschaft in den Nervenbahnen.
Ich breche das Rückgrat und richte auf, ich nehme die Luft zum Atmen, und bin doch das einzige, das nicht erstickt, ich mache blind und gleichzeitig sehend für die wahren Dinge des Lebens. Ich bin eine stille Tragödie, ein schreiender magischer Moment. Ich bin langsam und schnell, hell und dunkel, sicher und riskant, gefährlich und behütend... gerade deshalb möchte ich mich ja um das Leben bewerben. Die Zeit verrinnt, die Menschen werden älter, und viele versäumen die Gelegenheit sich von anderen verletzen zu lassen. Wie sie sehen decke ich eine große Bandbreite dessen ab, was es ausmacht.
DER OPTIMIST: Sie haben mich überzeugt! Sie verdienen das Leben!
DER NEUTRALE: Nicht so voreilig, wir haben noch zwei weitere anzuhören.
DER PESSIMIST(misstrauisch): Ja, denn ich kann mir nicht vorstellen, das wo so viel Sonne ist nicht auch ein großer Schatten ist.
DIE LIEBE: Schatten?
DER PESSIMIST: Nun, riskant und gefährlich…
DIE LIEBE: Oh ja.
DER PESSIMIST: Ausserdem heisst es, das man von ihnen leicht den Verstand verliert.
DIE LIEBE: Verstand gehört nicht unbedingt zum leben.
DER OPTIMIST: Da hat sie recht.
DER PESSIMIST: Da hat sie recht.
DER NEUTRALE: Da hat sie recht.
DIE LIEBE: Und was die Gefahr angeht: Für manche Menschen, für die die des Lebens wert sind, ist jede Zeit eine Zeit der Gefahr, eine Zeit der Versuchung, eine Zeit in der das Leben intensiver wird, sich konzentriert auf den Moment mit all seinen unerbitterlichen Konsequenzen. Lebensgier zeichnet sie aus und unersättliches Verlangen nach Gefühl. Ich bin der Antrieb dieser Lust. Ich bin das Bekenntnis an den anderen.

Stille

DER OPTIMIST: Dann danke ich ihnen für ihre Bewerbung.

ab

DER NEUTRALE: Der nächste!

Off: Als nächstes bewirbt sich um das Leben: der Glauben.

Ein alter Mann mit weißen Bart in Jeans und Hawaii-Hemd tritt auf

DER PESSIMIST: Alt ist er. Zu alt.
DER OPTIMIST: Aber gut erhalten.
DER NEUTRALE: Ein wenig verbraucht.
P (laut).: Alter Mann, verstehen sie mich?
G(verwirrt).: Verstehen? Ich muss nicht verstanden werden.
DER NEUTRALE: Er meinte akkustisch.
DER GLAUBE: Natürlich. Bin zwar nicht mehr der jüngste, doch wie sie sehen noch immer in guter Verfassung.
DER OPTIMIST: Und wie modisch gekleidet er ist!
DER PESSIMIST: Geschmacklos.
DER NEUTRALE: Zumindest unangepasst.
DER GLAUBE: Nötig ist das in diesen Zeiten. Persönlich verabscheue ich ja diesen neumodischen Unsinn. Aber man will mich nicht in altersgemässer Verfassung. Diese jungen Leute verlangen nach etwas ihrem dahinvergetieren engepasstes.
DER NEUTRALE: Genug geklatscht.
DER PESSIMIST: Kommen wir zum Punkt. Sind sie überhaupt fähig in ihrem hohen Alter noch die Verantwortung für das Leben zu übernehmen?
DER GLAUBE: Sie unterschätzen mich. Gerade mein hohes Alter ist es, dass es geradezu verlangt, dass mich das Leben verdient. Jahrhunderte lang war ich es, der die Menschen am Leben erhalten hat. Ich habe Scharen wieder zurück ins Leben geführt, wenn sie schon das Messer an ihre Schläfen angesetzt haben. Mein Einfluss liess mächtige Gebäude entstehen, die hunderte Kriege überdauerten…
DER PESSIMIST: Kriege…das ist mein Stichwort. Viele hunderte Kriege, die in ihrem Namen geführt wurden.
DER GLAUBE: Nicht in meinem, man hat ihn nur als Deckmantel benutzt. Der wahre Name ist Macht und Gier und Geld. Man benutzt mich heute noch zu den verschiedensten Anlässen, immer dann, wenn es gilt, das schlimmste zu rechtfertigen. Traurige Zeiten, für mich, für uns alle. Niemand mehr da, der meine wahre Bedeutung kennt.
DER OPTIMIST: Dann erklären sie sich.
DER GLAUBE: Ich bedeute, nichts zu wissen und dennoch zu hoffen. Und Hoffnung, ist es das nicht, was das Leben ausmacht?
Für manche Menschen, für die die des Lebens wert sind, ist jede Zeit eine Zeit der Gefahr, eine Zeit der Versuchung, eine Zeit in der das Leben intensiver wird, sich konzentriert auf den Moment mit all seinen unerbitterlichen Konsequenzen. Lebensgier zeichnet sie aus und unersättliches Verlangen nach Gefühl. Ich bin der Antrieb dieser Lust. Ich bin die Hoffnung im Glauben.

P.: Ich denke, dann haben wir genug gehört.
O.: Beeindruckend.

ab

N.: Der nächste!

Off: Als letztes bewirbt sich um das Leben: der Tod.

DER OPTIMIST: Das wird die Erlösung sein. Die Suche ist am Ende.
DER PESSIMIST: Und wenn nicht?
DER NEUTRALE: Dann ists halt einer von den anderen zwei.

Der Tod tritt auf. Er ist, wie könnte es anders sein, ganz in schwarz gekleidet, seine Lippen sind blutrot, sein Gesicht weiß. Er bringt eine Sanduhr mit sich, die er vor den anderen auf den Tisch stellt.

DER OPTIMIST: Mächtig.
DER PESSIMIST: Nun, bei Licht betrachtet…
DER NEUTRALE: Hier ist kein Licht.
DER PESSIMIST: Ein wenig seltsam, dass gerade Sie sich um das Leben bewerben. Wo sie sind, endet es doch meist…
DER TOD:Ich muss gleich darauf hinweisen, dass meine Zeit begrenzt ist. Ich werde sie bald wieder verlassen, deshalb gleich zum Thema. In mir liegt das wahre Leben, was wäre es denn ohne mich? Alles, nachdem ihr Menschen strebt, all eure Liebe und euer Glauben, euer wissen und hoffen, was wäre es denn im Strom der Unendlichkeit? Sinnlos werden Worte, sinnlos werden Taten, sie verwehen im Sand der Zeit. Nur das Bewusstsein eurer eigenen Endlichkeit lässt euch zum höchsten wachsen. Nur wer weiß, dass die Sanduhr ( abläuft und nicht umkippt ( wird in sich das Leben sehen. Doch auch meine Tage sind düste in diesen zeiten. Zu viele, die meinen, Sie könnten richten, wer mich verdient, zu wenige, die ihre Momente erkennen. Überhaupt zu viel Zeit meinen sie zu haben und immer noch nicht genug Zeit haben sie. Was nützt sie ihnen dann, in ihrem verfallenen Körper, ihrer verfallenen Seele, die starr geworden ist, von der geistigen Gewohnheit, von der Zeit, die sie, ohne mich zu bedenken, sinnlos vertan haben.
Für manche Menschen, für die die des Lebens wert sind, ist jede Zeit eine Zeit der Gefahr, eine Zeit der Versuchung, eine Zeit in der das Leben intensiver wird, sich konzentriert auf den Moment mit all seinen unerbitterlichen Konsequenzen. Lebensgier zeichnet sie aus und unersättliches Verlangen nach Gefühl. Ich bin der Antrieb dieser Lust. Ich bin der Gedanke an die Vergänglichkeit.
Blick auf die Sanduhr
Meine Zeit ist abgelaufen. Ich bin es, das Leben.

ab

Betretene Stille

DER OPTIMIST: Er ist es.
DER PESSIMIST: Er ist es.
DER NEUTRALE: Er ist es. Das Leben.

alle ab, Neutrale als letztes, dreht im Gehen Sanduhr um, die als einziges, rieselnd, zu sehen bleibt.


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Ana's Brief

Ana's Brief
Erlaube mir mich vorzustellen. Mein Name, oder wie ich von sogenannten "Ärzten" genannt werde, ist Anorexie.
Mein vollständiger Name ist Anorexia Nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute
Freunde.

In der nächsten Zeit werde ich viel Zeit in dich investieren und ich erwarte das Gleiche von dir.

In der Vergangenheit hast du mit bekommen, wie deine Lehrer und Eltern über dich sprachen. Du bist "so reif",
"intelligent", "gibst immer alles" und in dir steckt "so viel Potential". Wohin hat dich das alles gebracht,
wenn ich fragen darf?? Nirgendwo hin! Du bist nicht perfekt, du strengst dich nicht genug an und draüber hinaus
verschwendest du deine Zeit damit, mit diesen Freunden zu reden und über sie und das Zeichnen nachzudenken.
Dieser Luxus wird dir in Zukunft nicht gestattet sein.

Deine Freunde verstehen dich nicht. Sie sind nicht ehrlich. Früher, als die Unsicherheit an deinen Gedanken genagt
hat, und du sie gefragt hast: "Sehe ich... fett aus?" und sie geantwortet haben "Nein, natürlich nicht", wusstest du,
dass sie lügen. Nur ich sage dir die Wahrheit. Deine Eltern... lass uns nicht so weit gehen! Du weißt, dass sie dich
lieben und dass sie für dich sorgen, aber die Sache ist einfach die, dass sie deine Eltern sind und verpflichtet sind,
so zu handeln. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis verraten: Tief in ihrem Inneren sind sie von dir enttäuscht.
Aus ihrer Tochter, der mit all dem Potenzial, ist ein fettes, faules Mädchen geworden, das alles, was es hat, nicht
verdient hat.

Aber ich bin gerade dabei, das alles zu ändern.

Ich erwarte eine ganze Menge von dir. Du darfst nicht viel essen. Es wird langsam anfangen: Reduzierung der Fettaufnahme,
Lesen der Nährwertangaben, Junk Food, Frittiertes etc. wird weggelassen. Für eine Weile wird die Übung einfach sein:
Etwas Laufen, vielleicht ein paar Crunches und Sit ups. Nichts zu Schweres. Verlierst vielleicht ein paar Pfunde. Nemme ein
bisschen Fett aus diesem Fettbottich deines Bauches. Aber es wird nicht lange dauern, dann werde ich dir sagen, dass das nicht
genug ist.

Ich werde von dir erwarten, deine Kalorienaufnahme zu verringern und gleichzeitig mehr Übungen zu machen. Ich werde dich
an deine Grenzen treiben. Du musst es ertragen, weil du dich mir nicht widersetzen kannst. Ich fange an, mich bei dir
einzunisten. Ziemlich bald bin ich immer bei dir. Ich bin da, wenn du morgens aufwachst und zur Waage rennst. Die Zahlen
werden beides - Freund und Feind, und mit rasenden Gedanken betest du, sie mögen niedriger sein, als gestern Morgen.
Du siehst mit Schrecken in den Spiegel. Du kneifst dir in das Fett, das da ist und lächelst, wenn du dir über Knochen
streifst. Ich bin da, wenn du den Tagesplan gestaltest: 400 kcal, 2 Stunden Sport. Ich bin die jenige, die ihn ausgnobelt,
weil spätestens jetzt meine und deine Gedanken Eins werden.

Ich folge dir den ganzen Tag hindurch. In der Schule, wenn du dich schlecht konzentrieren kannst, gebe ich dir etws z
um Nachdenken: Zähle die Kalorien für den Tag nach. Es ist zuviel. Ich fülle deinen Kopf mit Gedanken über Essen,
Gewicht, Kalorien und Dinge, über die Nachzudenken sicher ist. Denn jetzt bin ich bereits in dir drin. Ich bin in
deinem Kopf, deinem Herzen und deiner Seele. Die Schmerzen des Hungers, die du vorgibst zu spüren, bin ich in dir.

Ziemlich bald werde ich dir nicht nur sagen, was du mit Essen machen sollst, sondern auch, was du die GANZE Zeit
über machen sollst.Lächel und nicke. Zeige dich von deiner guten Seite. Schlage auf diesen fetten Bauch, verdammt,
Gott, bist du eine fette Kuh! Wenn es Zeit für's Essen ist, sage ich dir, was zu tun ist. Ich mache einen Teller mit
Kopfsalat, der wie ein Festmahl passend für einen König aussieht. Reiche das Essen herum. Lass es so aussehen, als
hättest du etwas gegessen. Kein Stück... wenn du isst, dann wirst du dir Kontrolle verlieren .... WILLST du das?
Wieder ein fette Kuh werden, die du einmal warst? Ich zwinge dich, Models aus Modemagazinen anzustarren. Diese perfekt
dünnen, verzichtenden Models mit den weißen Zähnen, Models der Perfektion, die dich von den Seiten der Hochglanzmagazine
heraus anstarren. Ich lasse dich erkennen, dass du nie wie sie sein kannst. Du wirst immer fett und nie so schön wie sie sein.
Wenn du in den Spiegel schaust, werde ich dir das Bild verzerren. Ich werde dir Fettleibigkeit und Scheußlichkeit zeigen.
Ich werde dir einen Sumo-Ringer zeigen, wo in Wirklichkeit ein hungerndes Kind ist. Aber du musst das glauben, denn wenn
du die Wahrheit kennen würdest, könntest du wieder anfangen zu essen und unsere Beziehung würde zerbrechen....

Manchmal wirst du rebellieren. Du wirst das kleine rebellierende, fieberhafte Gefühl, das in deinem Körper zurückgeblieben
ist bemerken und du wirst dich runter in die dunklen Küche wagen. Die Kühlschranktür wird sich ,leise knarrend, langsam öffnen.
Deine Augen werden das Essen streifen, dass ich in sichern Abstand von dir aufbewahrt habe. Du wirst deine Hände lethargisch,
wie in einem Albtraum durch die Dunkelheit nach einer Packung Cracker greifen sehen. Du stopfst sie in dich hinein, mechanisch,
nicht wirklich schmeckend, aber einfach genießend, dass du etwas gegen mich tust. Du greifst nach einer weiteren Packung, einer weiteren, einer weiter, einer weiteren. Dein Magen bläht sich auf und fängst an lächerlich auszusehen, aber du willst nicht
jetzt schon aufhören. Und die ganze Zeit schreie ich dich an aufzuhören, du fette Kuh, du hast du hast wirklich keine Selbstkontrolle, du wirst fett werden.

Wenn es vorbei ist, wirst du dich wieder an mich ranklammern, mich nach Rat fragen, weil du wirklich nicht fett werden willst.
Du hast eine der Hauptregel gebrochen und willst mich jetzt zurück. Ich zwinge dich ins Badezimmer, auf deine Knie, du
starrst ohne Gefühl in die Kloschüssel Deine Finger werden in deinen Rachen gesteckt und nicht ohne eine große Menge
Schmerz wird dein Essen rauskommen. Wieder und wieder wird dass wiederholt, bis du Blut und Wasser spuckst und du weißt,
dass alles raus ist. Wenn du aufstehst, wird dir schwindelig sein. Werde nicht ohnmächtig! Stehe aufrecht! Du fette Kuh ,
du verdienst es Schmerzen zu haben. Vielleicht entscheide ich mich bald anders, um dich von dem Gefühl der Ertappung zu
befreien. Vielleicht bringe ich dich dazu Abführmittel zu nehmen und du wirst bis in die frühen Morgenstunden auf dem Klo
sitzen, mit einem drückendem Gefühl in dir. Oder vielleicht ich bringe dich dazu dich selbst zu verletzen, deinen Kopf vor
eine Wand zu schlagen bis du schreckliche Kopfschmerzen bekommst. Ritzen ist genauso effektiv. Ich will, dass du dein Blut
siehst, wie es deinen Arm runterläuft und in diesem Bruchteil der Sekunde wirst du merken, du verdienst ihn, egal welchen
einen Schmerz ich dir gebe. Du bist deprimiert, besessen vom Schmerz und dem Verletzen. Du greift nach Außen aber niemand
wird dich sehen oder dir zuhören. Wen interessiert’s? Du verdienst es; du hast es selbst über dich gebracht.

Ist das Rauh? Willst nicht, dass das mit dir passiert? Bin ich unfair? Ich tue Sachen die dir helfen. Ich mache es
möglich für dich aufzuhören an deine Gefühle zu denken, die die Ursachen für deinen Stress sind. Gedanken der Wut,
Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Einsamkeit können sich verziehen, denn ich fülle deinen Kopf mit dem Kalorien Zählen.
Ich vernichte deinen Kampf um mit anderen Kindern deines Alters Zeit zu verbringen. Denn jetzt bin ich deine einzige Freundin.
Ich habe einen Schwäche. Aber wir dürfen keinem davon erzählen. Wenn du dich entscheidest gegen mich zu kämpfen, jemanden zu erreichen und ihm zu erzählen, was ich aus deinem Leben mache, wird alles zusammen brechen! Niemand darf es erfahren ,
niemand kann die Schale brechen, mit der ich dich bedeckt habe. Ich habe dieses dünne, perfekte, beneidenswerte Kind
geschaffen.
Du bist mein, nur mein. Ohne mich bist du nichts. Also kämpfe nicht gegen mich! Wenn andere Bemerkungen machen,
ignoriere sie. Beschleunige dein Tempo, vergiss sie, vergiss alle, die versuchen mich von dir weg zubekommen.
Ich bin dein größter Gewinn und ich habe vor sie von dir fern zu halten.

Mit freundlichen Grüßen,
Ana

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